Living Games Festival: Die Definition des Kulturbegriffs

Die beiden letzten Veranstaltungstage des Living Games Festivals standen ganz im Zeichen der Kultur. Ein breites Spektrum an Newcomer-Projekten mischte sich mit großen Titeln wie Mass Effect 2 auf dem Festival, das in gewisser Hinsicht vielseitiger war als die gamescom.

Ein Ereignisreiches Wochenende für die Gamer-Community: Während in Köln die besten deutschen eSport-Teams zu den ESL Finals antreten, messen sich in Bochum die kulturell wertvollsten Spiele beim Living Games Festival. Dem hin- und hergerissenen Game-Enthusiasten dürfte sich zunächst die Frage stellen: Warum sollte ich ein solches Event besuchen? Reicht nicht die gamescom als spektakuläre Spielemesse?
In der Tat: Fetzig ist sie, die gamescom. Vier Tage Reizüberflutung mit einer wahren Fülle an neuen Computerspielen, die quasi jedes Gamerherz höher schlagen lassen. Doch dem Living Games Festival gelingt es mit einem ganz eigenen Konzept, in so mancher Hinsicht die gamescom in Puncto Vielseitigkeit zu schlagen – und das auf kleinerem Raum.

Beim Living Games Festival geht es nicht um die Hatz nach den neuesten Titeln, es geht nicht um die Masse. Wer das Kultur-Festival der Computerspiele besucht, erhält einen viel persönlicheren, tieferen Einblick in die bunte Welt der Computerspiele. Das Festival erlaubt es, hinter die Fassade der reinen Unterhaltung zu blicken und die eigentliche Faszination an Computerspielen zu erleben: Die audiovisuelle Ästhetik, der künstlerische Anspruch und die hohe Kunst, packende und bedeutungsträchtige Geschichten zu erzählen. Wer Computerspiele als Kultur erleben möchte, der ist auf dem Living Games Festival genau richtig.

Heavy Rain ist das kulturell wertvollste Spiel des Jahres

Besonders deutlich wurde dieser Anspruch beim Living Games Festival Award. Hier wurde nicht einfach das beste Spiel, sondern das kulturell wertvollste Spiel prämiert. Unter dem 15 Nominierungen befanden sich Blockbuster-Titel wie Red Dead Redemption, aber auch äußerst ungewöhnliche Titel wie The Path. Der Award hob sich in jederlei Hinsicht gegenüber anderen Auszeichnungen ab. Eine kompetente Jury aus Redakteuren verschiedener Magazine wie z.B. GameStar stimmte über die drei Gewinner des Awards ab, bezog aber gleichzeitig das Publikum in einer offenen und kontroversen Podiumsdiskussion mit ein. So wurde unter Anderem diskutiert, inwiefern die Charakterisierung von „Gay Tony“ aus GTA 4 bahnbrechend für die Thematisierung von Homosexualität in Unterhaltungsmedien ist.
Für deutsche Verhältnisse eindrucksvoll war schlussendlich auch die Auswahl der Jury. Diese ließ sich nicht – wie der deutsche Computerspielepreis zuvor – von Genrephobien beeinflussen und wählte zwei Actiontitel auf das Podium. Den ersten Platz machte Heavy Rain, welches dem Spieler wie kein anderes Spiel beim Wettbewerb eine emotionale Identifikation mit den Spielfiguren ermöglichte. Im Gegensatz zum ebenfalls nominierten Alan Wake überzeugte die Jury die Tragweite der Spieler-Entscheidungen im Spiel, die eine außerordentlich gute interaktive Geschichtenerzählung ermöglicht. Einzig kritisiert wurde die schlechte Steuerung des Spiels.
Den zweiten Platz belegte Mass Effect 2, dessen detailliert gezeichnete Spielwelt von der Jury gelobt wurde. Das Spiel konstruiere außergewöhnliche und bedeutungsvolle Konflikte, die den Spieler bei seiner Entscheidungsfreiheit desöfteren in ein moralisches Dilemma führen. Mass Effect 2 stelle damit einen Spiegel der Gesellschaft dar.
Ein eher ungewöhnliches Spiel belegte schlussendlich den dritten Platz: In Flower sah die Jury einen neuen, geradezu meditativen Ansatz für das Medium Computerspiel.

Raum für die Newcomer

Interaktiv blieb das Living Games Festival auch im Ausstellerbereich: Die 15 Nominierungen konnten hier von jedem Besucher angespielt werden, ebenso wie die zahlreichen Studenten- und Indie-Projekte, deren Entwickler den Besuchern als Gesprächspartner zur Verfügung standen. Deren Bemühungen wurden vom Veranstalter auch mit dem Newcomer-Award gefördert. Das skurrile Jump&Run Game mit dem ebenso skurrilen Namen „Sui&Cide“ von Studenten der Frankfurter Games Academy machte den dritten Platz, das Indie-Projekt „Toyborgs“ der Quereinsteiger addmore games belegte Platz 2. Sieger des Newcomer-Awards war einmal mehr „Night of Joeanne“ vom MD.H Team Sluggerfly, welches kürzlich erst den deutschen Computerspielepreis mit diesem Abschlussprojekt gewann.

Am Familientag erhielten Besucher einmal mehr die Chance, einen Blick in die Produktion von Computerspielen zu werfen. Verschiedene Mitarbeiter des Branchenzentrums „Games Factory Ruhr“ demonstrierten in Workshops die verschiedenen Arbeitsschritte bei der Entwicklung von Computerspielen – vom Storytelling über Concept Arts bis hin zu Modeling. Die MD.H Düsseldorf veranstaltete darüber hinaus eine Kinder-Uni, in der Jugendliche altersgerecht Inhalte aus einem typischen Game Design Studium präsentiert bekamen. Als echtes Urgestein der deutschen Entwicklerbranche stand auch Tom Putzki für Fragen rund um den Einstieg in die Industrie bereit.

Abgerundet wurde das Living Games Festival auch mit Ständen des VDVC, GameParents.de und dem Jugendschutztalk vor Ort. Hier konnten Eltern, Großeltern und auch Pädagogen sich umfassend über Fragen des Jugendschutzes informieren.

Alles in Allem war das Living Games Festival ein Muss für alle, die sich für Computerspiele begeistern und mehr darin sehen, als nur einen kleinen Zeitvertreib. Da wir den vielen spannenden Projekten in einem Artikel gar nicht gerecht werden könnten, gibt es in Kürze gleich zwei weitere Podcast-Folgen mit jeder Menge Interviews und spannenden Details zum Event. Bis dahin könnt ihr euch einen Eindruck über das Living Games Festival in unserer Galerie verschaffen.

Übrigens: Das Festival findet dieses Jahr gleich zweimal statt: Im Oktober habt ihr die Chance, das Living Games Festival auf der Essener SPIEL selber zu erleben!