Aktionsbündnis Winnenden und die Wissenschaft

In einer neuen Veröffentlichung zum offenen Brief des VDVC, der Jungen Piraten und Pirate Gaming an das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden (AAW) lässt letzteres zwei Wissenschaftler des Vereins „Mediengewalt – Internationale Forschung und Beratung e.V.“ zu Wort kommen. Zum Zweck, die eigenen Positionen qualitativ zu untermauern. Doch bereits bei oberflächlicher Betrachtung verflüchtigt sich jeglicher wissenschaftlicher Anspruch, zurück bleibt eine Aneinanderreihung pauschaler Diffamierungen und falscher Behauptungen.

Nach der Reaktion des AAW wurde in der Presse Kritik am Aktionsbündnis laut. Gehen sie doch kaum auf die Inhalte des offenen Briefes ein und wiederholen längst widerlegte Behauptungen. Die Stuttgarter Zeitung übertitelte ein Interview: „Das Amokbündnis schafft sich neue Gegner“ – ein Schlag ins Gesicht all jener, die einen konstruktiven Dialog mit dem AAW anstrebten.
In einer neuen Mitteilung ließ das AAW nun Dr. Rudolf H. Weiß und Dr. Werner Hopf Stellung zum offenen Brief nehmen. Offenbar sollte für die bisher unhaltbaren Standpunkte eine wissenschaftliche Basis geschaffen werden, dabei stehen beide Wissenschaftler schon seit Jahren für ihre undifferenzierten Forschungen in der Kritik.

Führen Gewaltinhalte in Spielen unweigerlich zu Abhängigkeit?

Dr. Weiß leitet das Schreiben mit einer Abhandlung über süchtige Computerspieler ein, bezeichnet diese als „bedauernswerte Menschen“ und zieht einen Vergleich zu Rauchern, der sich durch einen überaus schadenfreudigen Unterton auszeichnet: „Letztere werden mitleidig belächelt, wenn sie bei klirrender Kälte vor der Kneipe stehen und an ihrem Glimmstengel ziehen, von manchen werden sie sogar geächtet und gemieden.“
In seiner weiteren Ausführung beschränkt sich Weiß ausschließlich auf die Skizzierung von Extremfällen abhängiger Computerspieler, ohne dabei auf die eigentliche Thematik des offenen Briefes einzugehen: Den angestrebten Spieleverboten auf Basis der „Killerspiel“-Debatte.

Es stellt sich folglich die Frage, welche Relevanz die gesamte Ausführung von Dr. Weiß in Bezug auf das Thema hat. Weder wurde Abhängigkeit thematisiert noch verharmlost. Ein Indiz findet sich am Ende seiner Ausführungen: „Niemand von uns will die Betroffenen stigmatisieren oder gar kriminalisieren. Schon gar nicht, wenn es sich um Erwachsene handelt. Wenn die sich aber betroffen fühlen, nur weil wir verhindern wollen, dass immer mehr Jugendliche und auch Kinder in diesen Abhängigkeitssog von Gewaltspielen geraten, hat das schon etwas mit einem Realitätsverlust zu tun.“

In Anbetracht der Tatsache, dass Weiß sich explizit an die Verfasser des offenen Briefes wendet, kann dieser Aussage nur beleidigender Charakter beigemessen werden. Weiß unterstellt dem VDVC pauschal, selber betroffen (also abhängig von Computerspielen) zu sein. Das Ausmaß dieser Aussage wird deutlich, wenn man bedenkt, wen der VDVC repräsentiert: Die Spielerschaft in Deutschland. Laut Erhebungen des Instituts für Demoskopie Allensbach und anderer Institutionen sind das immerhin 30% der gesamten Bundesbevölkerung. Einer derart großen Bevölkerungsgruppe pauschal Realitätsverlust vorzuwerfen, lässt sich offenkundig selbst nur als Realitätsverlust bezeichnen.
Die Art der Argumentation offenbart unterdessen sogar faschistische Tendenzen: Wer nicht der gleichen Ansicht wie der Autor ist, disqualifiziert sich als psychisch krank. Wer dann auch noch dagegen Einspruch erhebt, bestätigt diese Erkrankung erst recht.

Grundsätzlich erübrigt sich an dieser Stelle jeglicher weiterer Diskurs, denn ein derartiges Gedankengut kann nicht als Ausgangsbasis für rationale oder gar wissenschaftliche Auseinandersetzung dienen. Jedoch übernimmt ab jener Stelle Dr. Hopf das Wort und orientiert sich stärker am eigentlichen Inhalt des offenen Briefes. Er unterstellt den Verfassern gleich zu Beginn, Lügen zu verbreiten. Unter Bezugnahme auf den Originaltext postuliert er zwölf Thesen. Eine Analyse auf den folgenden Seiten.


1. Sachlichkeit: Wer die Ergebnisse der Wirkungsforschung zu Computergewaltspielen leugnet, ist unsachlich und ignorant.

Wie sich im weiteren Verlauf (speziell These 7) noch zeigen wird, ignoriert Dr. Hopf eben jene Ergebnisse – eine Handlungsweise, die er selber kritisiert. Erst im März dieses Jahres veröffentlichte die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) einen Sonderband unter dem Titel „Umstritten und umworben: Computerspiele – eine Herausforderung für die Gesellschaft“. In diesem gibt Prof. Dr. Thorsten Quandt, Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, einen umfassenden Überblick über das Forschungsfeld und zeigt dabei auf, dass die Forschung noch weit von umfassenden Ergebnissen entfernt ist. Es werde noch viel zu punktuell geforscht. Außerdem seien die Arbeiten der letzten Jahre zu vielfältig, um ein ‚richtiges‘ Ergebnis belegen zu können.

2. Ein Verbot sei unverantwortlich: Der Begriff mündiger Bürger wird hier missbraucht. Der Begriff ist definiert durch politisch-ethische Inhalte und nicht durch die juristische Altersgrenze des Status des Erwachsenenseins mit 18 Jahren. Ein mündiger Bürger ist sich der Gefahren und Wirkungen von Mediengewalt bewusst und handelt gesellschaftlich verantungsvoll, indem er die Verbreitung derartiger menschenverachtender und unethischer Medieninhalte verurteilt und verhindert, soweit er kann.

3. Ein Hobby, das virtuelles Töten und andere Verbrechen zum Zeitvertreib macht, ist kein Hobby oder Spiel, sondern Simulation von Krieg und Gewalt.

Mündigkeit lässt sich in der Tat nicht pauschal an einer Altersgrenze festmachen. Ein mündiger Bürger ist sich jedoch nicht nur über die potentiellen Gefahren verschiedenster Medien bewusst, er kann ferner auch selbst differenziert bewerten, welche Inhalte unethisch oder menschenverachtend sind. Dabei umfasst speziell Ethik kein fest umrissenes Werteschema, hier spielen sozio-kulturelle Einflüsse eine starke Rolle.
Entsprechend undifferenziert ist Hopfs Einordnung des Begriffs „Spiel“. Schon in klassischen Ansätzen der Ludologie wird die Frage nach der Spielmotivation gestellt. Liegt diese bei First Person Shootern wie ‚Counter-Strike‘ tatsächlich im virtuellen Töten und der Ausübung von Gewalt, so wie Hopf impliziert? Philipp Lehmann kommt in der Publikation „Die First-Person-Shooter. Wie Lebensstil und Nutzungsmotive die Spielweise beeinflussen.“ zu einem anderen Ergebnis. So steht hier der sportliche Wettbewerb für Spieler im Vordergrund.
Doch neben den typischen eSport-Spielen gibt es in der Tat Simulationen von Krieg und Gewalt, denn das Medium Computerspiel ist gerade durch seine narrativen Dimensionen zu einem direkten Konkurrenten des Spielfilms geworden. Folglich handeln gerade Spiele für Erwachsene häufig von Kriegsdramen oder epochalen Konflikten der Menschheitsgeschichte. Nicht selten wird dabei gerade anhand von Gräueltaten und Unrecht Kritik an der Gesellschaft geübt.
Der umstrittene Shooter „Modern Warfare“ machte sich damit geradezu einen Namen als Antikriegsspiel. Bei simulierten Bombardements wird der Spieler Zeuge, wie seine Kameraden menschenverachtende Witze machen, während am Boden reihenweise Gegner sterben. Eine Darstellung, die in der Realität nicht lange auf sich warten ließ: Die gleiche menschenverachtende Mentalität verschiedener Soldaten wurde öffentlich, als WikiLeaksCollateral Murder – das Video des Helikopterangriffs im Irak – veröffentlichte, bei dem viele Zivilisten starben. Die Macher von Modern Warfare halten der Gesellschaft so einen Spiegel vor, wie er auch in kritischer Literatur und Antikriegsfilmen zu finden ist.
Ebenso zahlreich ist im Shooter-Genre der Ansatz der Science-Fiction zu finden. Das Spiel ‚Mass Effect 2‘ erhielt erst kürzlich eine Auszeichnung für seinen herausragenden kulturellen Wert. Der Spieler hält auch hier eine Waffe in der Hand, sieht sich jedoch schwerwiegenden Entscheidungen gegenüber und muss die Konsequenzen seines Handelns tragen. Nicht selten sieht er sich dabei mit einem moralischen Dilemma konfrontiert, kann durch Diplomatie aber auch Feuergefechte umgehen. Das Spiel zeichnet dabei epische Konflikte, wie sie in der wahren Menschheitsgeschichte kaum komplexer sein könnten.

Beispiele wie diese gibt es zuhauf, gleichzeitig zeigen sie eine bewusste Reflexion des Themas Gewalt, wobei ausufernde Gewalt nicht selten als Dystopie verpackt wird. Wäre es verantwortungsvoll, derart kulturell wertvolle Spiele pauschal zu verbieten? Zweifelsohne braucht es Medienkompetenz und historische sowie politische Bildung, um in diese Tiefe vorzudringen. Gerade hier sehen Medienpädagogen wie Dr. Danny Kringiel aber die Schwachstelle prohibitiver Ansätze wie z.B. Verbote: Sie verhindern die bewusste Auseinandersetzung mit dem Medium. Stattdessen sollte die Medienkompetenz durch Bildungsangebote gefördert werden, die gerade solche Computerspiele einschließt.

4. Unkontrollierbarkeit eines Verbots: 50% der Eltern kümmern sich nicht um den Medienkonsum ihrer Kinder und Jugendlichen. Dies belegen eine Reihe von Nutzungsstudien in den vergangenen Jahren. Das betrifft etwa 3-4 Millionen der Heranwachsenden. Allein sie zu schützen und den Eltern ein klares Signal zu geben – dafür ist ein Verbot notwendig. Weder ist der heutige Verkauf im Einzelhandel kontrollierbar noch das Internet. Jeder Jugendliche bekommt das Gewaltspiel, das er will, weil das Angebot und der Vertrieb ohne wirksame Begrenzung sind. Nur ein Verbot kann eine Grenze setzen.

Die Folgerung, ein Verbot könne eine Grenze setzen, ist ein Trugschluss. Wie Hopf selber rezitiert, ist die Distribution im Internet unkontrollierbar. Werden legale Angebote verboten, so werden sie kurzerhand durch illegale Angebote wie beispielsweise durch Filesharing-Börsen ersetzt. Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich heute auch auf den legalen Märkten beobachten: Spiele werden aufgrund von Zensur in großer Zahl aus Großbritannien importiert. Dabei wissen Jugendliche, die mit dem Medium aufgewachsen sind (sog. „Digital Natives“), in der Regel mehr über Beschaffungswege als ihre Eltern. Die Folge eines Verbots wäre, dass Jugendliche weiterhin insgeheim jene Spiele konsumieren, während den Eltern der Zugang – und damit auch die persönliche Bewertung gewalthaltiger Spiele – verwehrt wird.
Thorsten Quandt beschreibt jenen Konflikt zwischen Eltern und Kindern als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: „Neben diesem weitgehend alters- und biographiebedingten Unverständnis zwischen Gamern und Nicht-Gamern kommen noch Differenzen aufgrund geschlechts-, bildungs- und herkunftsspezifischer Unterschiede hinzu, welche auch innerhalb von Alterskohorten verlaufen. Insofern stehen sich oft Spieler und Nicht-Spieler in Familien oder Peer-Groups verständnislos und vielfach auch konfliktreich gegenüber.“
Um ihre spielenden Kinder zu verstehen sind daher auch gerade Eltern in der Pflicht, sich mit dem Medium auseinanderzusetzen. Ein pauschales Verbot würde unterdessen ein kontraproduktives politisches Signal senden: Es entbindet Eltern erst recht von der Sorgepflicht, zu der auch der Medienkonsum gehört.


5. Spieler wissen Realität und Virtualität zu unterscheiden:Das behauptet jeder Spieler (third-person-effect). Selbstberichte von Spielern belegen eindeutig, dass die Innenbilder, die durch Mediengewalt geschaffen werden, die Wahrnehmung der Realität stark beeinflussen. Oder glauben die Briefeschreiber, dass ihr Denken und Fühlen durch Werbung, Fernsehen und andere Medien weder geprägt noch beeinflusst sind? Die selbstüberschätzende Alltagspsychologie der Briefeschreiber zeugt von ihrer Bewusstlosigkeit.

6. „Wir wissen genau…“ Sie wissen eben nicht genau, was in ihrem Unbewussten und in ihrem Gedächtnis gespeichert wird. Daher ist es kein Wissen, sondern ihr Glaube.

7. Keine kausalen Zusammenhänge: Eine LÜGE! Allein die letzte Metaanalyse von Anderson et al (2010) belegte die Kausalität von Videogewaltspielen hinsichtlich der Erhöhung von Aggression und Gewalt bei Jugendlichen in Ost und West. Das zu verschweigen in einem offenen Brief ist Manipulation der Öffentlichkeit.

Kommen wir also zur Wirkungsforschung. Wie bei These 1 bereits angedeutet, verläuft Hopf sich hier in Widersprüchen. Einerseits unterstellt er den Verfassern des offenen Briefs Lügen, andererseits greift er wissenschaftlich höchst umstrittene Studien auf und zieht sie als Beleg für diese Behauptung heran.
Prof. Dr. Dietrich Dörner, theoretischer Psychologe an der Universität Bamberg, fasste die Problematik dieser rein auf Korrelationen basierenden Studien auf der Clash of Realities 2010 zusammen: Teilweise zeigten diese Studien lediglich geringe Korrelationen (z.B. 0.2) zwischen Gewaltspielekonsum und physischer Aggression, trotzdem leiteten die Autoren der betreffenden Studien eine Kausalität ab. Als Beispiel demonstrierte er eine Studie von Koglin, Witthöft und Petermann, in der aus einer Korrelation pauschal eine Kausalität abgeleitet wurde. Dass diese Folgerung unwissenschaftlich und zugleich absurd ist, illustrierte er mit einem Beispiel:
„Es besteht höchstwahrscheinlich eine positive Korrelation zwischen roten Ledersitzen und der Geschwindigkeit des damit bestückten Fahrzeugs. Wer jetzt aber auf die Idee kommt, er könne sein Auto schneller machen, indem er rote Ledersitze einbaut, wird eine unangenehme Überraschung erleben.“
Dörner führte weiter aus, dass eine positive Korrelation sich zwar aus Kausalität ergeben könne, jedoch ist dies in beide Richtungen möglich. So seien gewalthaltige Spiele möglicherweise nicht die Ursache, sondern die Folge aggressiven Verhaltens. Entsprechend liegen auch Studienergebnisse vor, die das Spielerlebnis als aggressionsabbauend beschreiben. Ebenso wahrscheinlich könne aber auch eine dritte Variable, z.B. aus dem sozialen Umfeld, im Spiel sein. Insbesondere der zitierten Studie von Anderson und Bushman warf Dörner entsprechend unreflektierte Interpretationen vor. Und tatsächlich: Basierend auf den gleichen Forschungsergebnissen gelangten Christopher Ferguson und John Kilburn der Texas A&M International University zu exakt gegenteiligen Interpretationen.

Unbestritten ist: Alle bisherigen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass während des Spielens – insbesondere kurz vor aggressiven Szenen – Gehirnregionen aktiviert werden, die für Kognition zuständig sind. Gleichzeitig werden Regionen blockiert, die für Empathie verantwortlich sind. Doch auch hierfür gibt es zwei Deutungsansätze: Einerseits die Befürchtung, dass durch Antrainieren emotionale Reaktionen auf Gewalt abgebaut werden. Andererseits, dass das Ausbleiben empathischer Reaktionen verdeutliche, dass der Spieler dem Spielerlebnis keine echten Emotionen beimesse. Eine Vermischung von virtueller und ‚echter‘ Realität sei daher unwahrscheinlich.

Trotz methodischer Fehler und grundsätzlich divergierender Interpretationen der Forschungsergebnisse ist es offensichtlich, dass Hopf die Deutungshoheit für sich beansprucht. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass es keine abschließenden, umfassenden Forschungsergebnisse gibt, zeigt Hopf sich außerordentlich unprofessionell, indem er andere Meinungen als Lüge diffamiert. Die Aussage, die Nichterwähnung einer wissenschaftlich höchst umstrittenen Studie sei eine Manipulation der Öffentlichkeit, entbehrt dabei nicht einer gewissen Kuriosität: Als Wissenschaftler die absolute Deutungshoheit über nicht abgeschlossene Forschungen zu beanspruchen, würde von einer Mehrheit der Bevölkerung wohl deutlich als Desinformation und Manipulation betrachtet werden.

8. Gesellschaftliche Ursachen: Tim K. hatte keine Statusprobleme genau wie viele andere Amokläufer. Ihre schwerwiegenden Probleme sind bei Millionen anderer Menschen vorhanden, die nicht Amok laufen, aber wahrscheinlich keine Gewaltspiele spielen. Die Behauptung, dass allein die gesellschaftlichen Ursachen (in Wirklichkeit sind es familiäre Ursachen) relevant seien, zeigt nur die Problemverschiebung: Mediengewalt ist eine zentrale Ursache für Gewalt im Kontext anderer Ursachen. Mediengewalt kann die Handlungsfolie für den Gewaltausbruch und die Taten liefern.

An dieser Stelle driften die Ausführungen von Dr. Hopf vollends in Absurdität ab. Er setzt die persönlichen Probleme des Amokläufers gleich mit denen der Allgemeinheit. Dabei kann wohl kaum behauptet werden, dass Depressionen und psychiatrische Behandlung der Normalität entsprechen. Doch damit nicht genug: Hopfs Vermutung, jene Vergleichsgruppe spiele im Gegensatz zum Amokläufer keine gewalthaltigen Spiele, scheitert an den Fakten. Ausgerechnet der Auslöser der gesamten Abhandlung – Tim K. – war nämlich kein aktiver Computerspieler. Dank der Spieleplattform Steam lässt sich sein Spielverhalten sogar bis zum heutigen Tag nachverfolgen: Zwar war er im Besitz der Counter-Strike Box, spielte diese jedoch mit insgesamt zwölf Minuten gerade einmal kurz an. Von dem durch Dr. Weiß eingangs angesprochenem Exzessivspiel kann hier keine Rede sein. Die suggerierte Ausprägung von Handlungsmustern kann in einer derart kurzen Zeitspanne kaum stattgefunden haben.
Doch auch über das Beispiel des Tim K. hinaus zeichnet die Realität ein anderes Bild: So liegt die Verbreitung von Computerspielen bei männlichen Jugendlichen unter 19 Jahren mit über 80% fast bei einer Volldiffusion. Betrachtet man die Popularität von den Genres First Person Shooter und Realtime Strategy, so müssen hier erhebliche Berührungspunkte einer breiten Bevölkerungsschicht mit gewalthaltigen Spielen vorliegen.
Untersucht wurde unterdessen auch die Korrelation zwischen Amokläufern mit Interesse an gewalthaltigen Spielen und dem Interesse an solchen Spielen bei ’normalen‘ Jugendlichen, und zwar von Christopher Ferguson auf Basis von Daten des U.S. Department of Education. Demnach lag das Interesse bei Jugendlichen generell bei 95%, dem gegenüber standen lediglich 15% der Täter, die sich tatsächlich für derartige Spiele interessierten. Wie sich in Anbetracht dieser Untersuchungen zeigt, liegt Hopf mit seinen Wahrscheinlichkeiten weit entfernt von der Realität.


9. Verbot: Es geht um die Brutalisierung der Kinder und Jugend generell. Amokläufe sind nur die Spitze dieser Brutalisierung.

In einer aktuellen Ausgabe publizierte das Telopolis-Magazin einen Beitrag zu den Thesen von Weiß und Hopf unter dem Titel „Die Doktoren und das böse Gamer-Vieh„. Darin fand sich eine sehr treffende Umschreibung der ganzen Mediendebatte: „Die Debatte wiederholt sich seit Platon und Aristoteles zyklisch – immer dann, wenn ein ’neues‘ Medium die Bühne betritt, rennen Warner dagegen an und sehen davon insbesondere die Jugend gefährdet.“
Wäre eine Brutalisierung der Jugend durch neue Medien derart evident, so müsste die Menschheit seit knapp 2400 Jahren eine fortlaufende Brutalisierung erleben. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass sich dies kaum in der Lebensrealität widerspiegelt. Vielmehr waren Medien mit ihren kulturellen Schöpfungen (und dazu zählen Computerspiele eindeutig) stets auch eine Reflexion jener Realität. Gewalt und Brutalität haben seit jeher die Menschheitsgeschichte begleitet. Gewisse aggressive Züge wohnen jedem Menschen inne, auch wenn er dies zu gerne von sich weist.
Es stellt sich daher die Frage, wie der Mensch aus Fehlern lernen soll, ohne jene zu reflektieren. Und gerade bei der Reflexion bietet sich das Medium Spiel an. Aus pädagogischer Sicht fördern Spiele das Lernen, auch noch im Erwachsenenalter. Medienpädagogische Ansätze könnten historisches und soziales Begleitmaterial bereitstellen, während ein pauschales Verbot die Reflexion vielmehr verhindern würde.
Darüber hinaus bleibt zu erwähnen, dass auch Spiele mit Gewaltinhalt häufig einen starken sozialen Charakter haben. Um das Multiplayer-Spiel ‚Counter-Strike‘ hat sich seit nunmehr über zehn Jahren eine beständige Community geformt, die in sportlichen Wettbewerben und anderen sozialen Events aufeinander trifft – online sowie im realen Leben. Cheryl Olsen kam in ihrer Harvard-Arbeit „Grand Theft Childhood“ sogar zu der Erkenntnis, dass Kinder ohne Kontakt zu Computerspielen tendenziell mehr Probleme im Elternhaus oder der Schule hatten. Sie kommt zu dem Schluss, dass Nichtspielen heutzutage sogar ein Zeichen für fehlende Sozialkompetenz sein kann.
Dass sich Verbote schädlich auf solche sozialen Netze auswirken können, haben die im letzten Jahr auf politischen Druck hin abgesagten Intel Friday Night Games deutlich unter Beweis gestellt.

10. In der Zeitschrift „making games Magazin“ 02/2010 schreibt ein Spieleentwickler: „Es gibt noch einen Grund, warum Spieleentwickler gewalthaltige Inhalte in ihre Produkte integrieren: Die Spieler fordern es! Nennen sie es Blutrünstigkeit oder schieben Sie es auf die abgestumpften, unreifen Brutalos…“ Weil die Briefeschreiber nicht über die wirklichen Motive der Killerspieler schreiben, ist der Brief unglaubwürdig und verlogen.

Der Terminus „wirkliche Motive“zeugt hier erneut von einer sehr eingeschränkten und pauschalisierten Sichtweise auf Computerspieler. Wie Quandt in seinem Forschungsüberblick festhält, gibt es nicht ‚den Spieler‘, sondern viele unterschiedliche Gruppierungen mit unterschiedlichen Eigenschaften. Während es durchaus Spieler gibt, die ähnlich den Fans des Horror-Genres Spaß an Splatter haben, trifft man in unterschiedlichen Communities auch andere Motivationen an. Häufig ist gerade im deutschen Raum zu lesen, dass rotes statt grünem Blut gefordert wird – jedoch nicht des Blutes wegen, sondern weil gerade die erwachsenen Spieler eine Bevormundung ablehnen.

11. „Wir sind friedliche Menschen…“ Der Widerspruch zwischen Handeln und „friedlichen“ Selbstbildern könnte nicht deutlicher bewiesen werden durch die hasserfüllten Reaktionen der so friedlichen Gamer, wenn ihr Gewaltvergnügen kritisiert oder ihnen weggenommen wird! Die Morddrohungen gegen Christian Berg und andere belegt die Verlogenheit dieses Briefes. Dieses „friedliche“ Selbstbild kann nur als Lebenslüge bezeichnet werden.

Die Ernsthaftigkeit vermutlich anonym abgesendeter Drohungen kann hier weder belegt noch widerlegt werden. Fest steht aber natürlich, dass ein derartiges Verhalten unentschuldbar ist. Trotzdem muss sich gerade ein Wissenschaftler hier die Frage stellen, was die teils aggressiven Reaktionen hervorruft. Ansätze dafür liefert Julia Kneer vom Lehrstuhl für Sozialpsychologie in Köln. Im Rahmen ihrer Untersuchungen fiel auf, dass befragte Spieler den Drang verspürten, ihr Hobby gegen Vorurteile verteidigen zu müssen. Die Existenz letzterer auf Seiten von Nichtspielern wurde im Rahmen der gleichen Studie nachgewiesen. Es ist daher nicht sonderlich verwunderlich, dass Menschen, die über Jahre hinweg fortlaufend mit den gleichen Vorurteilen konfrontiert werden, irgendwann aggressiv auf Vorverurteilungen reagieren können. Ironischerweise belegen Berichte von Jugendlichen, die Gedanken über einen Amoklauf oder Selbstmord hegten, vergleichbare Wirkungsweisen: So sahen sie sich jahrelang aufgrund von Andersartigkeit und kollektiven Vorurteilen von der Gesellschaft gering geschätzt. Je stärker diese Geringschätzung ihnen gegenüber kommuniziert wurde, desto stärker wurden Depressionen und Rachegedanken. In einigen Berichten ist zu lesen, dass nur glückliche Umstände einen Amoklauf noch verhinderten.
Der Vollständigkeit halber sei aber noch erwähnt, dass Aggressionen bei weitem nicht die einzige Reaktion sind. Die Friedlichkeit der Gamer-Community wurde gerade bei zunehmendem politischen Druck deutlich: Sie organisierte sich – der VDVC entstand und die ersten Gamer-Demonstrationen der deutschen Geschichte fanden in mehreren deutschen Städten statt, welche im Übrigen allesamt vollkommen friedlich verliefen.


12. Sucht (in Korea und anderen Ländern sind Suchtkliniken für Spieler schon „Normalität“): „Rechnet man auf der anderen Seite die Schätzungen hinsichtlich Abhängigkeit und Gefährdung durch Computerspiele nach den konservativen KFN-Daten auf die 14- bis 18-Jährigen der deutschen Bevölkerung (ca. 3,5 Millionen Personen) um, so beträgt die Anzahl von einer Computerspielabhängigkeit betroffenen Jugendlichen 59 670 und die Anzahl der gefährdeten Jugendlichen weitere 98 280 Personen. Damit sind beträchtliche individuelle und allgemeine Kosten verbunden: Die Chancen auf einen guten Start in das Leben werden aufgrund schlechter Schulleistungen, entsprechender Schulabbrüche und der Chronifizierung von Persönlichkeitsproblemen aufs Spiel gesetzt bzw. auch vertan. Und die Allgemeinheit wird durch Gesundheits- bzw. Therapiekosten beträchtlich belastet.“ (Lukesch 2010) Wollen die Briefeschreiber von der Suchtproblematik und dem Suchtpotential der Computerspiele nichts wissen oder wird neben den Gewaltwirkungen auch dieses zentrale Problem ignoriert, weil es zu heiß ist?

Sowohl der VDVC als auch Pirate Gaming und die Jungen Piraten sind sich der Gefahren des pathologischen Spielens durchaus bewusst. Es ist jedoch äußerst bedenklich, wenn Hopf als Wissenschaftler von „Sucht“ spricht. Dieser Terminus wird in der Psychologie gemieden, da er einen inflationären Gebrauch erfahren hat und nicht genau definiert ist. Das Thema liegt neben Gewaltwirkungen bereits im Fokus vieler wissenschaftlicher Untersuchungen, wobei die eingangs erwähnten Pauschalisierungen von Dr. Weiß der Forschung wenig zuträglich sind. Aktuelle Studien zu Abhängigkeitseffekten von Computerspielen zeigen, dass (exzessives) Spiel noch kein Beweis für eine Abhängigkeit ist. Eine solche geht unter anderem mit physischen Schäden, Entzugserscheinungen oder gar der Schädigung anderer einher. In den Untersuchungen von Thorsten Quandt fanden sich unter anderem exzessive Spieler wieder, bei denen keine Kriterien für die Einordnung als Abhängige erfüllt wurden. Auch zeigte sich, dass junge Erwachsene stärker in exzessives Spiel verfielen als z.B. Jugendliche. Der Effekt ließ sich insbesondere auf fehlende soziale Gefüge dieser Personen zurückführen, welche sich gerade in der Lebensphase zwischen dem Auszug aus dem Elternhaus und der Gründung einer eigenen Familie befanden.

Die Forschung in diesem Teilbereich der Computerspiele ist ausdrücklich begrüßenswert und wichtig, denn nur auf fundierten Forschungen lassen sich Exit-Strategien und Therapieansätze für betroffene Spieler entwickeln. Warum das Thema im offenen Brief jedoch nicht angesprochen wurde, hat einen sehr simplen Grund: Dieser bezog sich auf das vom AAW geforderten „Killerspiele“-Verbot, welches insbesondere mit den mutmaßlichen aggressionsfördernden Charakteristika begründet wurde. Den aktuellen Forschungen zufolge sind es jedoch vielmehr die positiv erlebten Aspekte des Spiels, die zu exzessivem Spiel oder gar einer Abhängigkeit führen können. Es ist das Erleben des „Flow-Zustandes“, also der völligen, zeitbeschränkten Immersion in eine Spielwelt. Hier spielen gerade soziale Aspekte eine enorme Rolle, wie sich an MMORPGs wie ‚World of Warcraft‘ zeigt.
Schlussendlich ergeben sich hier zwei grundsätzlich verschiedene Themenkomplexe, deren Berührungspunkte erst am Anfang der Erforschung stehen.

Kommentar des Autors

Die Intention der Einladung an die beiden Wissenschaftler war klar: Das Aktionsbündnis Winnenden wollte seine Thesen auf ein wissenschaftliches Fundament betten. Tatsächlich aber lässt die gesamte Abhandlung von Weiß und Hopf jeglichen wissenschaftlichen Anspruch vermissen. Hinter akademischen Titeln bleibt damit nur eine Aneinanderreihung irrelevanter oder teils widerlegter Plattitüden, deren Argumentationsketten bis in faschistische Ansätze abrutschen.

Als Autor wurde ich im Vorfeld dieses Artikels des Öfteren gefragt, ob sich die Mühe überhaupt lohne, auf die beiden Wissenschaftler einzugehen. Zu oft hätten diese exakt die gleichen Gemeinplätze wiederholt, ohne sich differenziert mit dem gesamten Forschungsfeld auseinander zu setzen – nicht zuletzt beim „Kölner Aufruf“.
An dieser Stelle möchte ich auf Prof. Dr. Dietrich Dörner verweisen, der bei der Clash of Realities 2010 auf einen wichtigen Aspekt dieser ganzen Debatte hinwies: Mit einfach herbei argumentierten ‚Sündenböcken‘ gegen gesellschaftliche Probleme der Jugendgewalt anzugehen ist nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht unprofessionell. Nein, es ist auch gefährlich. Denn somit wird von weitaus tragenderen Problemen abgelenkt, denen die Politik auf Anraten von Forschern weniger Aufmerksamkeit beimisst als der Jagd nach Phantomen.

Es wäre eine Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen aus Erfurt, Winnenden und anderen Schauplätzen von Gewalttaten, ließen wir derartige Aussagen unkommentiert stehen.

Abschließend lässt sich die Handlungsweise des AAW nur als bedauerlich bezeichnen: Anstatt die dargereichte Hand für konstruktive soziale Zusammenarbeit zu nutzen, fuhr das Aktionsbündnis einen an Ignoranz kaum zu übertreffenden Konfrontationskurs auf. Weder ist den Opfern, noch möglichen zukünftigen Opfern von Gewalttaten damit geholfen. Dabei hätte das Aktionsbündnis durch seine persönliche Betroffenheit durchaus eine große Chance gehabt, sich in Gesellschaft und Politik positiv einzubringen.
Durch eine Zementierung von Plattitüden jedoch verbaut sich das Bündnis jegliche Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit anderen Verbänden. Auch wird kein seriöser Politiker auf einer solchen Basis ein offenes Ohr für Forderungen haben.

Die Reaktionen der Herren Weiß und Hopf sind unterdessen ebenso vorhersagbar wie abgedroschen: Liegen keine fundierten Argumente vor, wird die Diffamierung aller Andersdenkenden in den Vordergrund gestellt. Und natürlich sind all jene grundsätzlich von U.S.-Militär oder der Medienbranche korrumpiert.